Einsiedeln

Einsiedeln. Für Viele ein Synonym für Katholizismus, Kloster und Wallfahrt. Wird man als Einheimischer gefragt, was für ein Ort das eigentlich sei, Einsiedeln, fällt die Antwort aber schwer. Der Ort hat multiple Identitäten.

Einsiedeln, das Klosterdorf

Wer nach Einsiedeln kommt, kommt in der Regel wegen des Klosters. Wer zum ersten Mal kommt, mag zunächst etwas irritiert sein.

Die historisierende, nach Mittelalter duftende Altstadt, welche viele Besucher erwarten, ist hier nicht zu haben. Der Weg vom Bahnhof zum Kloster führt den Besucher durch einen geschäftigen Dorfkern, vorbei an modernen Gewerbe- und Gastronomiebetrieben, funktionalen Bankgebäuden und Hotelbauten aus dem späten 19. Jahrhundert. Erst ganz zum Schluss öffnet sich dem Besucher unvermittelt der Blick auf die barocke Klosteranlage. Und die ist imposant, wie sie majestätisch über dem Dorf thront.

Obere Hauptstrasse in Einsiedeln, Postkarte, undatiert

Das Kloster hat eine über 1000-jährige Geschichte. Der erste Siedler in dieser Gegend war der Heilige Meinrad, ein Mönch aus dem Kloster Reichenau, welcher sich als Eremit in den «Finstern Wald» zurückgezogen hatte. Meinrad wurde im Winter 861 von zwei Dieben erschlagen. Im Jahr 934 gründete ein Geistlicher aus Strassburg an der Stelle, wo Meinrads Klause gestanden hatte, ein Benediktinerkloster. Die Klostergemeinschaft besteht noch heute. Die Geschichte der ganzen Region trägt seinen Stempel. Nicht zuletzt als landwirtschaftlicher Grossbetrieb, Gewerbezentrum und wichtiger Arbeitgeber hat das Kloster in der Geschichte der Region immer eine zentrale Rolle gespielt. Die klösterliche Pferdezucht beispielsweise war früher bis weit über die Landesgrenzen hinaus berühmt. Bis zu den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Europa um 1800 hat das Kloster die Region Einsiedeln sowohl politisch wie wirtschaftlich dominiert. Die Geschichte des Dorfes spielte sich bis dahin im Schatten des übermächtigen Klosters ab. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts konnte sich die Einsiedler Dorfbevölkerung vom Kloster emanzipieren. Doch auch später, und bis heute, kam das Dorf ohne das Kloster nicht aus. Man musste stets einen Weg finden, miteinander auszukommen, musste sich miteinander arrangieren. Vor allem wegen der Wallfahrt, an welcher das Kloster wie das Dorf gleichermassen ihre Interessen hatten und haben.

 

Einsiedeln, der Wallfahrtsort

Pilgerzüge in Einsiedeln, Aufnahme vor 1913, Postkarte, um 1940

Einsiedeln ist schon seit dem 14. Jahrhundert ein katholischer Wallfahrtsort mit internationaler Ausstrahlung. Ziel der Pilger war und ist die Schwarze Madonna, eine spätgotische Marienfigur in der Klosterkirche, welche als wundertätig gilt. Die Wallfahrt nach Einsiedeln unterlag zwar immer wieder Konjunkturen, blieb aber insgesamt während Jahrhunderten erstaunlich konstant. In Spitzenzeiten im 19. Jahrhundert besuchten bis zu 200’000 Pilger jährlich Einsiedeln. Die Einsiedler Bevölkerung profitierte wirtschaftlich von der Wallfahrt. Wirte, Gebetbuchhändler und Produzenten von Devotionalien und Wallfahrtsandenken verdienten durch die Wallfahrt gutes Geld, was ihnen mitunter den Vorwurf einbrachte, einen hintersinnigen «Geschäftskatholizismus» zu betreiben. Zwar waren schon in früheren Jahrhunderten Wallfahrten für die Gläubigen zu einem guten Stück immer auch eine «Lustreise», auf welcher sie nicht nur dem spirituellen, sondern auch dem leiblichen Wohl frönten. Heute fliessen weltliche und spirituelle Motive der Besucher aber stärker ineinander als je zuvor. Über 1 Million Menschen besuchen jährlich Einsiedeln. Die meisten davon als Tagestouristen. Neben den traditionellen Pilgergruppen und Gottesdienstbesuchern auch Wintersportler, Wanderer, Kulturinteressierte. Die Region Einsiedeln ist heute ein Naherholungsgebiet für den Grossraum Zürich. Wie früher kommen aber auch viele Besucher aus aller Welt ins Klosterdorf.

 

Einsiedeln und die Welt

Immer schon herrschte in Einsiedeln ein reges Kommen und Gehen. Die Pilgermassen zogen in früheren Zeiten stets auch Bettler, Hausierer und fahrende Händler aller Art an. Aber auch berühmte Zeitgenossen fanden den Weg ins Klosterdorf. So traf 1775 etwa Goethe hier ein und schrieb «über die rauhen Wege, die nach Einsiedeln führten.» Umgekehrt zogen die Einsiedler immer schon in die Welt hinaus und pflegten wirtschaftliche Beziehungen mit dem Ausland. Händler aus Einsiedeln zogen ihrerseits als Hausierer durchs nahe Ausland und verkauften Rosenkränze, Gebetbücher und allerlei religiösen Tand. Auch unter den Hunderttausenden von Schweizer Söldnern, welche bis weit ins 19. Jahrhundert in den Armeen der europäischen Grossmächten dienten, waren viele junge Männer aus dem Kanton Schwyz und Einsiedeln vertreten. Neben den Söldnern waren Milchkühe das wichtigste Exportprodukt aus der Innerschweiz. Auch Einsiedler Bauern und Viehzüchter trieben ihre Tiere im Herbst in tagelangen Märschen über den Gotthardpass und verkauften sie an die Händler der norditalienischen Grossstädte. Im frühen 19. Jahrhundert trat neben diese Formen der Mobilität und Migration die Überseewanderung, welche häufig einen definitiven Charakter hatte. Mehrere Tausend Auswanderer verliessen bis ins Jahr 1950 Einsiedeln in Richtung Amerika.

Denn wer in der Region hatte nicht einen Bruder, Cousin oder zumindest einen Bekannten, welcher «drüben» war und von dem er von Zeit zu Zeit einen Brief erhielt?
Die einen gingen, andere kamen. Der Staudamm und die Brücken über den Sihlsee, welcher in den 1930er Jahren bei Einsiedeln gestaut wurde, wäre ohne Gastarbeiter aus der südlichen Schweiz und Italien kaum gebaut worden. Lange Zeit war Einsiedeln auch ein Anziehungspunkt für Exponenten des internationalen, politischen Katholizismus. Hier bot sich die Gelegenheit, den katholischen Widerwillen gegen den als unchristlich empfundenen «Geist der Moderne» zu demonstrieren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts büsste Einsiedeln – im Gleichschritt mit der katholischen Kirche in Europa – an Bedeutung ein. Religiöse Grossveranstaltungen gibt es aber nach wie vor. In der heutigen Zeit ist Einsiedeln mehrmals jährlich Schauplatz grosser Wallfahrtevents einzelner ethnischer Gruppen und Nationalitäten. Grosse Gruppen von Portugiesen, Tamilen, Kroaten und anderen kommen nach Einsiedeln und feiern ein Fest nach ihrer Art, bei dem der Gottesdienst freilich nur ein Bestandteil unter mehreren ist.

 

Einsiedeln, Ort der Bildung und der Kultur

Klosterkirche in Einsiedeln, Postkarte, undatiert

Klöstern kommt vielerorts auf der Welt die Rolle von Kulturträgern zu. Auch in Einsiedeln. Wenn in Zusammenhängen von Kunst, Kultur und Bildung von Einsiedeln gesprochen wird, meint man das Kloster, dessen barocke Architektur und Bibliothek, welche von einer alten Buchkultur zeugt, man denkt an Orgelkonzerte und andere kulturelle Veranstaltungen im Kloster, allenfalls auch an die umfangreichen kultur- und naturhistorischen Sammlungen, welche die Mönche über die Jahrhunderte zusammengetragen haben. Viele werden auch an die Klosterschule denken, an welcher seit seiner eidgenössischen Anerkennung 1872 Tausende junger Frauen und Männern das Gymnasium besucht und die Matura absolviert haben. Einsiedeln gilt Vielen als ein Ort sogenannt «altehrwürdiger Kultur». Gemeint ist immer das Kloster, nie das Dorf.

Der ausschweifende, dem Kloster vorgelagerte Platz ist nicht nur ein verbindendes Element, in welchem Weltliches und Geistliches ineinander übergehen, sondern auch Sinnbild für den kulturellen Graben zwischen dem Kloster und dem Dorf. Das Dorf hat eine eigene Identität, welche es sich – freilich in Abgrenzung zum Kloster – geschaffen hat.

 

Das ländliche Einsiedeln

Es gibt eine lange Tradition in Einsiedeln, das Dorf in der Tradition der Einsiedelei des Heiligen Meinrads als abgeschiedenen Ort fernab des Weltgeschehens darzustellen. Alte Bezeichnungen für Einsiedeln wie «Finstrer Wald» oder «Heilige Wüste» weisen darauf hin. Das Selbstbild eines isolierten Ortes in den Schweizer Alpen findet sich in stilistisch überhöhter Weise auch auf zahlreichen Postkarten aus der «Belle Époque».

Luftaufnahme der Region Einsiedeln, Postkarte, um 1950

Zum Bezirk Einsiedeln gehört nicht nur die Kleinstadt mit seinen heute rund 9’500 Einwohnern und dem Kloster, sondern auch die sechs bis heute von der Land- und Viehwirtschaft geprägten umliegenden Dörfer, Bennau, Egg, Euthal, Gross, Trachslau und Willerzell, welche «Viertel» genannt werden. Das Dorf Einsiedeln hat eine Zentrumsfunktion für dieses Umland. Für grössere Besorgungen gehen die Bewohner aus den Vierteln ins Dorf, wo sich auch die Verwaltung, das Spital und die Sekundarschule befinden und sich das Kultur- und Nachtleben abspielt. Die Region und ihre Bewohner haben einen ländlichen Charakter bewahrt. Viele Einsiedler sind stolz auf ihre Traditionen, welche keine urbanen Traditionen sind, ihren eigenwilligen Dialekt, das intensiv gepflegte Vereinswesen. Weit über 100 Vereine gibt es in Einsiedeln. Zahlreiche Sportvereine, über 30 Musik- und Gesangsvereine, Theater- und Kulturvereine. Das lokale ländliche Brauchtum ist den Einsiedlern dabei näher als Initiativen der «Hochkultur». Während der Fasnachtszeit beispielsweise befindet sich Einsiedeln im Ausnahmezustand. Innert wenigen Wochen finden mehrere traditionelle Maskenbälle und Umzüge statt. Männergruppen mit Kuhglocken («Trichler») ziehen durchs Dorf, Kinder wie Erwachsene verkleiden sich, viele kreieren eigene Masken und bauen Fasnachtswagen. Höhepunkt ist der «Rosenmontag» (auf Einsiedler Deutsch «Güdelmäntig»): nur zwei Tage bevor am Aschermittwoch die vierzigtägige Fastenzeit beginnt, wird noch einmal ausgelassen und laut gefeiert. Auch andere Bräuche und Traditionen werden hochgehalten. Die jährliche Viehausstellung im September beispielsweise. Sie wissen ihre Feste zu feiern, die Einsiedler, sehen sich aber auch als geschäftstüchtige Leute, welche den Gemeinsinn hoch halten.

Viele schätzen das soziale Netz im Dorf mitsamt seinen Verbindlichkeiten, andere empfinden das Dorfleben als eng, ja beengend.

Einsiedeln, Oberegg Panorama

Das boomende Einsiedeln

1850 gehörte Einsiedeln zu den 15 grössten Ortschaften der Schweiz. Später stagnierte das Bevölkerungswachstum. 1950 lebten in Einsiedeln weniger Menschen als im Jahr 1880. In den letzten 25 Jahren ist wieder ein stärkeres Bevölkerungswachstum zu verzeichnen. Im Jahr 1990 noch lebten im Bezirk Einsiedeln etwas mehr als 10`000 Menschen. Heute sind es bereits über 15’000. Die Region befindet sich sichtlich im Umbruch. Längst ist sie von der Agglomeration der rund 40 Kilometer entfernt liegenden Stadt Zürich erfasst worden – mit all den infrastrukturellen Herausforderungen, welche damit einhergehen. An der Peripherie des Dorfes und in den Vierteln sind in den letzten Jahren mehrere neue Quartiere entstanden, im Dorfkern zahlreiche neue moderne Geschäfts- und Wohnhäuser. Viele Zuzüger sind junge Familien, welche das ländliche Umfeld schätzen und sich hier auch Mietzinse und Bauland eher leisten können als in den Städten. Daneben gibt es auffallend viele Einsiedler, welche jahrelang auswärts gelernt, studiert, gelebt haben, irgendwann im Erwachsenenalter aber in ihren Heimatort zurückkehren.

Literaturauswahl

  • Bosshard-Kälin, Susann; Künzi, Beatrice, Geschichten – Gesichter. Die Welt trifft sich auf dem Einsiedler Klosterplatz, 2013.
  • Kälin, Kari, Schauplatz katholischer Frömmigkeit. Wallfahrt nach Einsiedeln 1864 bis 1914, Freiburg i.Ü. 2005.
  • Oechslin, Werner; Buschow Oechslin, Anja, Die Kunstdenkmäler des Kantons Schwyz (Bd. I: Das Benediktinerkloster, Bd. II: Dorf und Viertel Einsiedeln) (= Die Kunstdenkmäler der Schweiz 100, 101), hrsg. von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, Bern 2003.
  • Ringholz, Odilo, Wallfahrtsgeschichte Unserer Lieben Frau von Einsiedeln. Ein Beitrag zur Culturgeschichte, Freiburg i.B. 1896.
  • www.einsiedeln.ch
  • www.kloster-einsiedeln.ch
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