Einsiedler und Schwyzer Überseewanderung 1800 - 1950

Hunderttausende Schweizer wanderten bis 1950 nach Amerika aus. Darunter auch mehrere Tausend Einsiedler. Aber weshalb eigentlich? Was geschah mit ihnen in der «Neuen Welt»? Wo gingen sie hin? Wie organisierten sie sich? Was für eine Rolle spielte ihre Herkunft in ihrem neuen Umfeld in Amerika?

Die Überseewanderung ist ein faszinierendes Kapitel der europäischen Geschichte. Rund 50 Millionen Europäer, davon 500`000 Schweizer, wanderten zwischen 1850 und 1950 nach Nordamerika aus. Auf den ersten Blick könnte man meinen, für die Schweiz sei die Geschichte der Auswanderung längst erzählt. Bücherfüllende Statistiken geben detailliert Auskunft über die Zahl und die geographische Herkunft der Auswanderer.

Die Schweiz (41`000 km², 8.3 Mio. Einwohner) und Kentucky (105`000 km², 4,5 Mio. Einwohner) im direkten Vergleich.

Allerdings täuschen Zahlenreihen eine Genauigkeit vor, welche der Komplexität von Wanderungsprozessen in der Realität nicht gerecht wird. Häufig gingen die Auswanderer nicht einfach von ihrem Heimatort in der «Alten Welt» direkt an einen ausgesuchten Ort in der «Neuen Welt», sondern an mehrere Orte nacheinander – und nicht selten auch wieder zurück. Auch geben die Statistiken keine Auskunft über die Gründe und die genauen Umstände der Wanderung. Auf einen zweiten Blick stellt sich deshalb unweigerlich das Gefühl ein, dass über die Schweizer Überseewanderung eigentlich erstaunlich wenig bekannt ist.

Siedlungstopographie der Einsiedler in den USA im Jahr 1880. Markiert sind alle Bundesstaaten mit mindestens zehn Einsiedler Haushalten (grün) und alle Counties mit mindestens fünf Einsiedler Haushalten (rot). (Infografik: Paolo de Caro, 2015).

Im Projekt «Einsiedeln anderswo» soll anhand einer kleinen Region in den Schweizer Voralpen, eben Einsiedeln, das Phänomen der Schweizer Überseewanderung auch in einer historischen Perspektive fassbar gemacht werden. Das Beispiel Einsiedeln bietet in mehrfacher Hinsicht günstige Voraussetzungen für einen migrationshistorischen Zugang: Zum einen war die Überseewanderung aus Einsiedeln im schweizerischen Vergleich überdurchschnittlich stark. Zwischen 1850 und 1900 verliessen rund 2000 Einsiedler ihre Heimat in Richtung Amerika. Bis 1950 waren es gar etwa 3000. Aus keinem anderen Bezirk in der Zentralschweiz gingen damals mehr Menschen nach Übersee. Zum anderen wies die Einsiedler Auswanderung eine bemerkenswerte Vielfalt auf. Nicht alle Einsiedler Auswanderer wurden von der Armut fortgetrieben. Die Auswanderung spielte sich vielmehr in mehreren Sphären ab und wurde von verschiedenen Faktoren und Akteuren geprägt. So hat beispielsweise die katholische Zentrumsfunktion von Einsiedeln die regionale Auswanderung massiv beeinflusst. Die katholische Grosswetterlage im 19. Jahrhundert brachte es mit sich, dass feste Brücken zwischen Amerika und Einsiedeln entstanden. Einsiedler Mönche gründeten 1854 im südlichen Indiana ein Tochterkloster mit dem Namen St. Meinrad, welches sich zu einem wichtigen religiösen Zentrum der Region entwickelte. Ab 1853 gründete der katholische Einsiedler Buch- und Bilderverlag Benziger Filialen in New York, Cincinnati, St. Louis und Chicago. Der Handel mit Gebetbüchern, Andachtsbildern und religiösen Artikeln aller Art unter den vor allem deutschen und irischen katholischen Einwanderern brachte der Firma gute Geschäfte.

Siedlungstopographie der Einsiedler in den USA im Jahr 1930. Markiert sind alle Bundesstaaten mit mindestens zehn Einsiedler Haushalten (grün) und alle Counties mit mindestens fünf Einsiedler Haushalten (rot). (Infografik: Paolo de Caro, 2015).

Diese stabilen Verbindungen zwischen Einsiedeln und einigen Orten in den USA führten dazu, dass fast ausschliesslich alle Einsiedler Auswanderer zwischen 1850 und 1950 in die USA gingen – und nur einzelne nach Kanada, Südamerika oder Australien. Innerhalb der USA lassen sich mehrere Zentren der Einsiedler Ansiedlung feststellen: Schon früh New York und New Jersey sowie einige Counties in Pennsylvania. Später auch Kalifornien sowie vor allem Tacoma im Bundesstaat Washington. In unserem Projekt „Einsiedeln anderswo“ konzentrieren wir uns auf die Stadt Louisville am Ohio River, dem insgesamt grössten „Cluster“ von Einsiedlern in den USA. Ab den 1850er Jahren und verstärkt ab den 1880er Jahren siedelten sich hier zahlreiche Einsiedler Einwanderer an. Um 1900 lebten in Louisville über 1000 Schweizer, welche in der Schweiz geboren wurden, davon etwa 130 Einsiedler (fast die Hälfte davon trugen den Nachnamen Kaelin). Recherchen vor Ort haben gezeigt, dass die Einwanderer aus Einsiedeln in gewissen Bereichen – etwa als Produzenten von Milchprodukten oder als aktive Mitglieder in Schweizer Vereinen und katholischen Pfarreien – eine gewichtige Rolle spielten innerhalb der regionalen Schweizer Community.

Wir folgen im Projekt den Einsiedler Auswanderern also quasi über den Atlantik und versuchen beide Seiten der Geschichte zu zeigen.

Weiterführende Literatur zur Schweizer Auswanderungsgeschichte

  • Ritzmann-Blickenstorfer, Heiner, Alternative Neue Welt. Die Ursachen der schweizerischen Überseeauswanderung im 19. Und frühen 20. Jahrhundert, Zürich 1997.
  • Schelbert, Leo, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, Zürich 1976.
  • Studer, Brigitte et al. (Hg.), Die Schweiz anderswo. AuslandschweizerInnen – SchweizerInnen im Ausland (= Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 29), Zürich 2015.
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